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TEXTINPUT

  • Seraina
  • 11. Nov. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. Apr.

"Wer nicht handeln kann, muss fühlen." Fritz Breithaupt Essay Psychologie Heute 10/2022


Was ist nun das Besondere am narrativen Denken? Das Denken in Narrationen erzeugt eine eigene Zeitzone und seinen eigenen Raum. Denn wenn wir in eine Narration eintreten, verändert sich unser Bezugsrahmen. Statt in unserem eigenen Hier und Jetzt sind wir mental auf einmal in dem Hier und Jetzt der Geschichte. Wir alle haben, was ich ein "mobiles Bewusstsein" nenne. Wir können vergangene Momente zurückrufen und sie also erneut erleben. Wir können uns in die Perspektive eines anderen Menschen hineinversetzen und Empathie empfinden. Oder wir können uns etwas vorstellen, was es vielleicht nie geben wird. Erst in Erinnerung wird ein durchlebtes Ereignis zu Episode. Wenn wir es in der Erinnerung aufrufen, und wiedererleben, ist dieses zweite Erleben nun deutlich verschieden von dem ersten Geschehen. Beim ersten Mal prägen wir den Verlauf durch unsere Handlung, könnnen nach rechts oder links abzweigen. Wir haben die Wahl, das Ende ist offen. Beim zweiten Mal, beim episodischen Erinnern dagegen, sind wir gebunden und können nur dem Zug der Handlung nachfolgen. Das Ende steht fest. Unsere Gefühle und Emotionen in der Erinnerung sind nun auch anders als beim ersten Mal. Beim ersten Mal leiten unsere Gefühle unsere Entscheidung in die Richtung, die uns als richtig erscheint. Beim zweiten Mal loten wir die Emotionen aus und erwägen, was hätte anders kommen können. Unsere Emotionen sind nicht mehr die aus dem Originalerlebnis, sie schweben nostalgisch darüber, voller Reue oder auch voller Genugtuung.

Wir sehen etwas vor unseren Augen und können doch nicht einspringen und etwas tun. So geht es uns immer, wenn jemand uns eine Geschichte aus seinem Alltag erzält oder wenn wir ein Buch lesen, einen Film schauen. Das ist nun aber zugleich eine ganz paradoxe Situation. Denn eigentlich sind wir ja darauf trainiert zu handeln. Wer im Hier und Jetzt ist, hat immer eine Handlungsoption. Doch wer in einer Narration steckt, kann das nicht tun. Wir sind der Geschichte oder erinnerten Episode gegenüber ausgeliefert.

Eine Methode, die wir (im Forschungszentrum) anwenden sind Stille-Post-Spiele. Wir erzählen jemand eine Geschichte und bitten diese Person, die Geschichte in ihren eigenen Worten weiterzuerzählen. Oder wir geben ihr eine Geschichte zu lesen und erbitten eine schrifliche Nacherzählung. Dieses Nacherzählen und Weitersagen einer Geschichte ist bestens dazu geeignet, um festzustellen, was ihren Kern ausmacht und also unverändert erhalten bleibt, was übertrieben wird oder was einfach wegfällt. Bei den Stillen-Post-Spielen in meinem Labor haben wir übrigens eine grösse Überraschung erlebt (20 000 Teilnehmer:innen). Dabei haben wir uns gefragt, was den nacherzählten Geschichten Stabilität verleiht. Die bislang vorherrschende Meinung dazu war, dass die Kausalität das Gerüst einer Geschichte ausmacht. Entscheidend sei, warum jemand etwas macht oder wieso etwas passiert. Doch in unserem Stille-Post-Spiel hat sich etwas anders ergeben. Unsere Nacherzähler:innen von vielen hundert Geschichten waren durchaus bereit, vieles an der Ursprungserzählung zu verändern. Sogar das Warum. Stattdessen war es den Nacherzählenden sehr wichtig, wie genau sich die Geschichte anfühlte. Der Grad an Traurigkeit, Freude, Überraschung oder auch Peinlichkeit wurde von ihnen genau von einem Erzähler zur nächsten Erzählerin weitergegeben. Diese Gefühlslage macht den stabilen Kern der Geschichte aus. Wir denken in Geschichten, so meine ich inzwischen, weil sie uns mit Emotionen belohnen. Das Denken in Geschichten belohnt uns mit seinen Emotionen, ebenso wie es uns mit anderen verbindet. Die Hoffnung auf die Emotionen ist der Ansporn, warum wir uns auf die Geschichten einlassen. Die Besonnenheit des narrativen Denkens drückt sich in dem feinen Sensorium für Emotionen aus. Wir werden zum Echoraum der Emotionen. Wer nicht handeln kann muss fühlen.



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